
Das sind keine Büchersocken, sondern ganz einfache Füßesocken
Büchersocken
„Was strickst du, Oma?“, fragt Maila und versucht auf meinen Schoß zu krabbeln. Sofort lege ich das Strickzeug zur Seite und helfe der Kleinen hoch.
„Ich stricke Buchhüllen, Maila.“
„Ist den Büchern denn kalt?“
Ich muss lachen, dabei ist die Frage ja eigentlich clever.
„Nein, kalt ist ihnen nicht, aber es sieht doch hübsch aus, findest du nicht?“
„Ja, Oma, aber warum strickst du Socken für die Bücher? Strick doch lieber für mich, vielleicht ein Paar pinke Socken!“
„Hast du denn noch gar keine in Pink?“, frage ich und wundere mich. Sie besitzt Socken in allen Farben. Das dachte ich jedenfalls.
Heftig schüttelt Maila den Kopf.
„Nein, habe ich nicht. Die, die ich hatte sind zu klein geworden, deshalb habe ich sie Greta geschenkt, die hat winzige Füße.“
Greta ist Mailas Puppe. Sie hat tatsächlich winzige Füße, selbst Mailas Socken werden zu groß für sie sein. Deshalb schlage ich vor, dass ich, sobald ich die Buchhülle fertig gestrickt habe, für sie und Greta ein Paar Partnersocken stricken werde.
Das gefällt ihr.
„Oma, wie lange dauert es denn, bis die Buchhülle fertig ist?“
„Nicht mehr lange, es ist die letzte Hülle, dann sind alle Bücher bestrickt“, erkläre ich ihr und zeige ihr die ersten drei dicken Bücher, die wunderbare Wollkleider bekommen haben.
„Sind das Geschichtenbücher? Liest du mir etwas vor?“, bettelt sie.
„Es ist meine Lebensgeschichte, Kind und ich werde dir gern etwas vorlesen, aber nicht aus diesen Büchern. Die kannst du lesen, wenn du selbst lesen kannst und ich nicht mehr da bin.“ Meine Stimme kratzt verdächtig und meine Augen füllen sich mit Tränen.
Glücklicherweise fragt Maila nicht weiter nach. Ich müsste ihr dann erklären, dass ich meine Lebensgeschichte in vier Teilen erzählt habe. Frühling, Sommer, Herbst und Winter heißen sie und in den entsprechenden Farben habe ich die Schutzhüllen gestrickt. Gerade arbeite ich am letzten Teil, der Winterhülle.
Ich entscheide, dass ich das Thema nicht vertiefen möchte und lenke ab.
„Wollen wir gemeinsam die Wolle aussuchen?“, frage ich Maila, die sofort Feuer und Flamme ist.
Gemeinsam durchforsten wir meine riesige Wollschublade und finden eine regenbogenbunte Wolle, die Maila verzückt aus der Schublade holt.
„Die ist aber schön!“, ruft sie begeistert aus. „Die möchte ich!“
Schnell lege ich ein passendes Nadelspiel dazu und verspreche, noch heute damit zu beginnen.
„Aber zuerst noch eine Geschichte!“, bestimmt Maila und sie besteht darauf, dass ich aus dem Frühlingsbuch lese. Ich lasse mich darauf ein, denn mein Lebensfrühling war bunt und unbeschwert. Also beginne ich:
„Es war ein Dienstag, der heißeste Dienstag des Jahres 1955. Das sagte meine Mutter jedenfalls. Der Tag meiner Geburt. Alle waren zu Hause versammelt und warteten auf mich. Aber ich ließ mir lange Zeit. Mein Opa Willi lief den ganzen Tag wie ein Tiger im Käfig auf und ab. Er war nervös, denn ich war ja sein erstes Enkelkind. Oma kochte und war auch ganz aufgeregt. Meine Mama war oben im Schlafzimmer und wartete auf mich.“
Maila schaut mich mit großen neugierigen Augen an. Sie findet es spannend und fragt nach:
„Und dein Papa? Wo war der?“
„Der musste arbeiten. Er kam erst am Abend, als ich schon auf der Welt war und selig in meiner Wiege schlief.“
Ich zeige Maila ein Foto.
„Schau, das bin ich, da bin ich erst ein paar Stunden alt. Mein Papa hat das Foto gemacht.“
Meine Tochter ruft uns zum Abendessen, deshalb schließe ich das Buch und verspreche, am nächsten Tag weiter zu erzählen. Maila drückt mir einen dicken Kuss auf die Wange.
„Du warst ein süßes Baby, Oma, fast so süß wie ich!“, sagt sie und dann hüpft sie in die Küche und ermahnt mich noch, schnell nachzukommen, denn ihr Hunger sei soooooo groß. Dabei breitet sie die Arme aus und zeigt, wie groß er ist.
Wie gut ist es, dass ich mit dem Winterbuch gerade erst angefangen habe. Ich werde noch vieles erleben, das ich dort hineinschreiben möchte, sooooo vieles.
© Regina Meier zu Verl 2015