Ein Wiedersehen nach vielen Jahren
Morgen werde ich meine alte Freundin Silke treffen. Sehr lange habe ich sie nicht mehr gesehen und bin gespannt, ob sie sich verändert hat. Ich betrachte das Foto, das uns beide vor dem Brandenburger Tor zeigt. Damals habe ich sie bewundert, weil sie immer ein wenig anders als alle anderen war, bunt und etwas schrill. Das lag nicht nur an ihren feuerroten Haaren, vielleicht ein wenig. Sie fiel einfach auf, hatte ihren ganz eigenen Kleidungsstil. Kreativ wie sie war, schneiderte sie ihre Klamotten selbst und stricken konnte sie wie keine. Es entstanden unter ihren Stricknadeln die tollsten Kreationen, bewundernswert.
Wir haben uns dann aus den Augen verloren. Ab und zu kam eine Karte, wenn sie gerade wieder auf einem ihrer Auslandstrips war. Ich habe mich jedes Mal drüber gefreut, aber ich war auch ein wenig neidisch, denn ich hatte mich für das Lebensmodell Familie entschieden. Es ist nicht so, dass ich nicht glücklich wäre. Drei wunderbare Kinder habe ich und einen tollen Mann. Aber mit unserem Familieneinkommen können wir keine weiten Sprünge machen. Meine Arbeit musste ich ja aufgeben damals, als ich mit unserer Jüngsten schwanger war und jetzt ist es gar nicht mehr so einfach, beruflich wieder einzusteigen. Jenseits der Fünfzig waren die Chancen gleich Null. Ich war zu lange zu Hause und müsste mich erstmal ganz schön wieder reinknien, um den Anschluss zu finden.
Silke hatte die Schule mit Leichtigkeit beendet, obwohl sie nicht viel dafür getan hat. Sie hatte gar keine Zeit zum Pauken. Ständig war sie mit ihren Leuten unterwegs und hat Party gemacht. Manchmal war ich auch dabei, aber nicht so oft. Ich hatte in einigen Fächern echte Probleme und musste stundenlang zu Hause lernen, um mein Abi zu schaffen. Na ja, was soll’s? Ich habe es geschafft und mein Numerus Clausus war fast so gut wie der von Silke. Danach fragt heute niemand mehr.
Silke ist nach dem Abi erstmal für ein Jahr nach Amerika gegangen. Ob sie später studiert hat, das weiß ich nicht und wenn ich es mir recht überlege, dann weiß ich nicht einmal, wie ihre Pläne waren und was sie einmal werden wollte. Für mich stand fest, dass ich Betriebswirtschaft studieren würde. Das habe ich auch gemacht, schließlich hatten meine Eltern eine Firma und die wollte ich übernehmen. Das war der Plan. Es ist aber leider nichts draus geworden, denn mein Herr Vater hatte andere Pläne. Er verliebte sich in eine junge Frau und zog von heute auf morgen bei uns aus. In „seinem“ Haus durften wir gnädiger Weise wohnen bleiben. Die Firma fuhr er jedoch vor die Wand. Seine junge Frau hatte wohl zu hohe Ansprüche. Es kam zu Privatentnahmen, dann zur Zahlungsunfähigkeit, schließlich mussten alle Mitarbeiter entlassen werden und meine Mutter und ich konnten sehen, dass wir unseren Lebensunterhalt verdienten. Meinen Vater habe ich seit dem Auszug nie wieder gesehen. Kein Anruf, kein Brief kam von ihm, nichts. Meine Eltern wurden in Abwesenheit meines Vaters geschieden. Das Haus hat meine Mutter verkauft, vermutlich hat sie die Hälfte vom Gewinn noch an Vater zahlen müssen. Ich habe sie nie gefragt und sie hat mit mir niemals darüber gesprochen.
Meine Mutter ist vor einem halben Jahr gestorben. Sie fehlt mir sehr, auch den Kindern. Sie war fünfundsiebzig und es wäre so schön gewesen, wenn sie noch bei uns geblieben wäre. Wo mein Vater abgeblieben ist, das weiß ich nicht und vielleicht will ich es auch gar nicht mehr wissen. Er hat uns im Stich gelassen. Das hätte ich ihm nur dann verzeihen können, wenn er sich wenigstens mal gemeldet hätte. Drei Enkelkinder hat er, vielleicht weiß er von ihnen gar nichts, möglicherweise ist es ihm ja egal. Ob er noch lebt? Hätte ich davon erfahren, wenn es nicht so ist?
Ich nehme meine Brille ab und putze verstohlen ein paar Tränen weg. So ganz egal scheint es mir ja doch nicht zu sein. Entschlossen stehe ich auf und räume unter lautem Geklapper den Geschirrspüler aus. Ein Wunder, dass dabei nichts zu Bruch geht.
Morgen werde ich sie also treffen, die Silke. Vielleicht sollte ich zum Frisör gehen. Ich wische den Gedanken fort und schimpfe laut mit mir: Wie armselig ist das denn? Du triffst deine alte Freundin und hast keinen anderen Gedanken, als dass deine Frisur sitzt? Mann, Mann, Gerlinde, du bist ganz schön oberflächlich geworden.
Ich sollte mich einfach freuen und unbefangen an das Treffen herangehen. Was sollte diese Gefühlsduselei eben denn nur? Dabei hat mich der Anruf so sehr gefreut. Sie hat mich also nicht vergessen. Das ist doch ein schönes Gefühl und Freunde können Jahre getrennt sein, das hält eine richtige Freundschaft aus. Man trifft sich und fängt einfach da wieder an, wo man vorher aufgehört hat. Ist doch so, oder?
Wir sind im Stadtcafé verabredet, das habe ich vorgeschlagen, weil bei uns zu Hause doch immer was los ist. Die Kinder sind da und meist auch noch irgendwelche Freunde. Da könnten wir gar nicht in Ruhe reden. Andererseits hätte ich ihr gern meinen Nachwuchs vorgestellt. Es sind ja keine Kinder mehr, die Jüngste ist mittlerweile auch schon achtzehn. Sie lässt sich nicht mehr vorzeigen. Und die Jungs, die interessieren sich momentan eher für ihre Freundinnen. Der Große redet sogar schon vom Heiraten. Das ist wohl der Lauf der Welt, alles wiederholt sich. Es ist ja auch richtig so, es geht immer weiter.
Ich sitze also im Stadtcafé und bin aufgeregt wie ein Schulmädchen. Ich rechne damit, dass Silke zu spät kommt. Dann öffnet sich die Tür, Silke betritt den Raum. Hinter ihr sehe ich einen älteren Herrn und traue meinen Augen nicht. Es ist mein Vater.
„Nun komm schon Schatz!“, sagte Silke zu ihm. Mein Herz schlägt, als wollte es zerspringen. „Nein!“, schreie ich ohne Ton. „Nein!“
Eine gnädige Ohnmacht nimmt mich in diesem Moment in ihren Armen auf.
© Regina Meier zu Verl 1/2016
Liebe Regina,
das war eine sehr einfühlsame Geschichte. Ich habe mit vielen Möglichkeiten gerechnet bei diesem Treffen, aber dann doch nicht mit diesem Schluss. Das hast Du meisterhaft erzählt und ich habe es mit großem Interesse gelesen.
Herzliche Grüße
Astrid
Gefällt mirGefällt 1 Person
Danke schön, liebe Astrid,
die Idee zu der Geschichte kam mir, als eine Bekannte mir erzählte, dass ihr Vater nun mit einer ihrer Freundinnen verheiratet sei. Die beiden verstehen sich aber trotzdem noch gut und witzeln darüber, dass die Freundin nun ihre „Stiefmutter“ ist.
Herzlichen Grüße
Regina
Gefällt mirGefällt 2 Personen
Hallo Regina, eine interessante Geschichte. Ich gebe zu, dass ich sie erst mehr so nebenbei gelesen habe und dann nach der Hälfte irgendwann dachte „Mensch, die Regina hat ja Einiges mitgemacht!“ und dann erst gemerkt habe, dass es sich um eine Kurzgeschichte und nicht um einen privaten Blogeintrag handelt 🙂 (Ich war bei meinen Mails, nicht in deinem Blog.) Daraufhin bin ich wieder zum Anfang zurück und habe weniger neugierig als mehr literarisch interessiert gelesen.
Ich mag den Tonfall, in dem deine Ich-Erzählerin berichtet. Lakonisch – leicht wehmütig ob eventuell vergebener Chancen, aber gleichzeitig auch zufrieden mit sich und dem, was sie erreicht hat.
Von daher war mir dann der letzte Absatz eine Spur zu viel. Das Ende, also den inhaltlichen „Clou“ finde ich gut, aber die Reaktion der Ich-Erzählerin kommt mir etwas zu „gewollt“ dramatisch rüber, das ist m.E. gar nicht notwendig, denn die Dramatik der Situation ist ja bereits offensichtlich.
Das mal meine Gedanken nach dem Lesen 🙂
LG, Ruby
Gefällt mirGefällt 2 Personen
Liebe Ruby,
danke fürs Lesen und deine Gedanken zu meiner Geschichte. Wenn ich drüber nachdenke, gebe ich dir recht, evtl. bedarf es dieser Dramatik am Schluss gar nicht. Ich lasse das mal ein paar Tage wirken und denke drüber nach, den Schluss evtl. ein wenig zu „entschärfen“.
Herzliche Grüße
Regina
Gefällt mirGefällt 2 Personen
Liebe Regina,
die Geschichte ist gut. Die Erzählweise locker. Man kann sich die Hauptperson gut vorstellen. Aber das Ende… sehr melodramatisch! Das hast du, hat deine Geschichte doch gar nicht nötig!
Ich bin neugierig auf die Überarbeitung!
Gespannte Grüße
Katrin
Gefällt mirGefällt 2 Personen
Liebe Katrin,
danke fürs Lesen und deinen Kommentar. Ruby sieht es ja ganz ähnlich wie du, also ist da wohl was dran. Ich werde den Schluss verändern – brauche aber ein wenig Bedenkzeit!
Herzliche Grüße und ein schönes Wochenende dir
Regina
Gefällt mirGefällt 1 Person
Lass dir Zeit!
Dir auch ein schönes Wochenende!
Gefällt mirGefällt mir