Lena
1. Juli 1970
Lena schaute sich noch einmal in ihrem Zimmer um. Ihr Blick streifte all die vertrauten Gegenstände, das gefüllte Bücherregal, den Schreibtisch.
Sie schloss die Augen. Sie wollte das alles nicht mehr sehen.
„Alles Lug und Trug!“, dachte sie, schulterte ihren Rucksack und verließ entschlossen den Raum. Leise schlich sie die Treppe hinunter. Im Haus war es totenstill.
Nachdem sie die Haustür vorsichtig hinter sich ins Schloss gezogen hatte, holte sie ihr Fahrrad aus dem Schuppen, schob es auf die Straße und fuhr los. Ihr Herz klopfte vor Aufregung und Angst.
Ihr Ziel war das alte Kloster, das am anderen Ende der Stadt lag. Sie war schon oft dort gewesen, immer dann, wenn sie sich zu Hause nicht verstanden gefühlt hatte. Die Schwestern hatten sie stets freundlich aufgenommen. Das war immer nur für ein paar Stunden gewesen, danach war sie nach Hause zurückgekehrt. Nach Hause! Jetzt hatte Lena kein Zuhause mehr.
Dabei hätte sie gerade jetzt Grund genug dafür gehabt, glücklich zu sein. Die Schulzeit war beendet, das Abitur mit Auszeichnung bestanden. Das Leben lag vor ihr, alle Türen standen offen.
„Du hast ein Recht darauf, zu erfahren, wo deine Wurzeln sind!“, hatte Mutter gesagt, als sie am Tag nach der Abiturfeier gemeinsam im Wohnzimmer gesessen hatten. Lena hatte sie bestürzt angesehen.
„Meine Wurzeln?“
„Ja, liebe Lena! Es fällt mir nicht leicht, es dir zu sagen. Gerne hätte ich es mit ins Grab genommen, aber ich darf es nicht. Du bist jetzt erwachsen und du sollst wissen, dass du immer meine Tochter sein wirst.“
Lena ahnte Furchtbares. Schließlich hatte sie genug gelesen, kannte Dialoge, die so oder ähnlich eröffnet wurden. Ihr wurde übel, jegliche Farbe wich aus ihrem Gesicht.
„Nun mach es nicht so spannend. Wo wurde ich ausgesetzt und warum habt ihr mich aufgenommen.“, hatte sie zu scherzen versucht, obwohl ihr nicht danach war, Witze zu machen.
„Nein, nein! Niemand hat dich ausgesetzt, aber eines stimmt, Lena, ich bin nicht deine leibliche Mutter!“
„Nicht meine …“, hatte Lena gestammelt und als Petra sie in den Arm nehmen wollte, hatte sie sich gesperrt.
„Ich werde immer deine Mama bleiben, ich … ich habe dich nur nicht geboren.“
„Und Papa? Was ist mit Papa?“
Petra war in Tränen ausgebrochen, als sie sich wieder ein wenig gefasst hatte, erzählte sie mit leiser monotoner Stimme. Die Geschichte klang unwirklich, wie auswendig gelernt.
„Er wollte nie Kinder. Als bei mir der Wunsch nach einem Kind immer größer wurde, hat er sich von mir zurückgezogen. Er hatte monatelang eine Freundin. Tagelang kam er nicht nach Hause, doch irgendwann hat er sie verlassen. Er liebe nur mich, hat er gesagt und ich habe ihm verziehen.“
„Ist er mein Vater?“
„Ja, Lena. Er ist dein Vater. Sibylle, seine Freundin, eröffnete ihm eines Tages, dass sie schwanger sei. Sie wollte deinen Vater nicht zurückhaben und sie wollte auch kein Kind. Sie schlug uns vor, dich nach der Geburt zu uns zu nehmen. Ich wusste zuerst nicht, was ich davon halten sollte, aber dann freundete ich mich mit dem Gedanken an. Kurz vor deiner Geburt wusste ich dann ganz sicher, dass ich dich haben wollte. Für mich warst du immer wie mein eigenes Kind.“
„Ihr habt um mich gehandelt, möglicherweise sogar Verträge abgeschlossen? Was bin ich, ein Möbelstück, das man verrücken kann, wohin es gerade passt?“, hatte Lena Petra angeschrien.
„Nein, so darfst du es nicht sehen. Bitte Lena, sei vernünftig …“
„Vernünftig? Ich fasse es nicht, das ist ja wohl das Heftigste, was mir bisher zu Ohren gekommen ist. Ihr habt mich betrogen, benutzt. Ich hasse euch!“
Das alles war vorgestern gewesen. Lena hatte stundenlang geweint, sie konnte nicht verstehen, was ihre Eltern da mit ihr getrieben hatten. Auch ihr Vater hatte sie nicht beruhigen können. Der schon gar nicht.
Sie wollte nur noch weg, vielleicht sollte sie ihre richtige Mutter aufsuchen. Ja, sie musste ihr ins Gesicht sehen und wenn es nur ein einziges Mal wäre. Am liebsten wäre sie gar nicht geboren.
Lena dachte, während sie durch die Nacht radelte fieberhaft nach. Dabei weinte sie immer wieder. Nach etwa einer Stunde erreichte sie das Kloster. Erschöpft setzte sie sich auf die Bank am Haupteingang. Sie musste sich zuerst sammeln und ihr Gesicht erfrischen. Aus ihrem Rucksack holte sie eine Mineralwasserflasche und ein Taschentuch, sie wusch ihr Gesicht und trank einen kräftigen Schluck.
„Sollen sie sich doch Sorgen machen, mir ist schon alles egal!“, dachte sie. Dann fiel ihr ein, dass sie ihre Eltern nicht einmal nach Sibylles Nachnamen gefragt hatte. Sie wusste auch nicht, ob Sibylle noch in der Stadt war oder von hier weggegangen war. Sie wusste nur, dass sie diese Frau hasste und ihren Vater auch, den sowieso. Und was war mit Petra? Konnte sie Petra hassen? Nein, natürlich nicht. Vater hatte sie im Stich gelassen, ein Kind mit einer anderen Frau gezeugt und Petra hatte es sogar noch zu sich genommen. Und als es darum ging, ihr, Lena die Wahrheit zu sagen, da hatte Vater sie auch im Stich gelassen. Selbst das musste Petra für ihn erledigen. Nein, sie hasste Petra nicht, sie liebte sie.
Lena blieb auf der Bank vor dem Kloster sitzen. Warum sollte sie die Ordensschwestern mitten in der Nacht herausklingeln? Die Luft war mild und mit jedem Schluck Wasser ging es ihr ein wenig besser.
Sie ging in die Klosterkapelle, nahm eine Kerze, warf ein Fünzig-Pfennig-Stück in den kleinen Holzkasten und zündete dann die Kerze an. Während sie in die Flamme starrte, fiel ihr ein, was sie tun musste. Aber vorher wollte sie Sibylle kennen lernen, ihr einmal ins Gesicht sehen. Eine einzige Frage würde sie ihr stellen: Warum?
Lena stieg auf ihr Fahrrad und radelte nach Hause zurück. Es war herrlich, den Sonnenaufgang zu erleben, die Vögel sangen und der Zeitungsbote war auch schon unterwegs.
„Guten Morgen, junge Frau!“, flötete er fröhlich. Lena grüßte freundlich zurück. Als sie in ihre Straße einbog sah sie Petra, die noch im Morgenmantel die Tageszeitung aus dem Briefkasten holte.
„Guten Morgen, Lena. Wo kommst du denn um diese Zeit schon her?“
„Hallo, Mama. Ich habe etwas gesucht und ich habe es gefunden.“ Lena stellte das Fahrrad zur Seite und umarmte ihre Mutter.
40 Jahre später, 1. Juli 2010
Lena saß in ihrem kärglich eingerichteten Zimmer. Vor ihr auf dem Schreibtisch lag ein Blatt blütenweißen Papiers und der alte Federhalter, den Sybille ihr einmal geschenkt hatte. Im Kerzenständer, den Lena, die jetzt Schwester Bernadette hieß, einmal in der Töpferwerkstatt des Klosters gefertigt hatte, brannte eine Kerze. Lena sah versonnen in das flackernde Licht. Sie dachte an ihre Mutter und daran, wie sich ihr Leben verändert hatte, nachdem sie erfahren hatte, dass Petra nicht ihre leibliche Mutter war.
„Nichts im Leben ist Zufall, alles hat seine Bestimmung.“, dachte Lena.
An jenem Tage vor vierzig Jahren hatte sie geglaubt, kein Zuhause mehr zu haben. Doch genau an diesem Tag hatte sie ihre Heimat und ihren Frieden gefunden. Sie hatte ihre leibliche Mutter aufgesucht. Kein Wort des Vorwurfs war über Lenas Lippen gekommen. Sie hatte Sybille reden lassen und auch, wenn sie nicht verstanden hatte, warum eine Mutter ihr leibliches Kind weggeben kann, hatte sie doch Zuneigung für diese Frau empfunden. Sie hatte ihren Frieden gefunden und schon ein paar Tage später war sie ins Kloster gegangen. Hier war sie daheim.
Sie war jetzt achtundfünfzig und blickte zurück auf eine Zeit, die voller Erlebnisse und Arbeit gewesen war. Nicht immer war es leicht gewesen und doch hatte Lena nicht einen Tag daran gezweifelt, dass sie die richtige Entscheidung getroffen hatte.
Sie hatte eine Ausbildung zur Krankenschwester absolviert und liebte ihren Beruf. In vielen Krisengebieten der Erde hatte man sie eingesetzt. Großes Elend hatte sie gesehen, aber auch viel Freude erfahren und Dankbarkeit.
Jeden Abend schrieb sie ihre Erlebnisse in ein dickes Buch. Sie wusste nicht, ob es je jemand lesen würde, aber es war ja ein Stück Zeitgeschichte, die sie da festhielt.
„Ich werde es einmal der Mutter Oberin zeigen.“, dachte sie. Dem Kloster war ein kleiner Verlag angeschlossen. Vielleicht wäre es ja eine gute Idee, diese Erlebnisse der Öffentlichkeit zugänglich zu machen.
„Ja, so werde ich es machen!“, sagte sich Lena und biss genussvoll in den Apfel, den sie sich für diesen Abend aufbewahrt hatte. Dann schrieb sie auf das noch unberührte Papier:
Liebe Mutter!
Wieder einmal schreiben wir den 1. Juli …
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