Wieder mal ein kleiner Auszug aus meinen Kindheitserinnerungen …
1060-1970 Neische
Das war eine wahre Festwoche, wenn Fräulein Hollenhorst zu uns kam. Wer ihr den Spitznamen die „Neische“ verpasst hat, weiß ich nicht mehr.
Während ich an sie denke, sehe ich sie deutlich vor mir, mit frisch dauergewellter, blonder Kurzhaarfrisur und Korallen-Ohrringen, die bei jeder Kopfbewegung so herrlich hin- und her wackeln. Zwischen die Lippen hatte sie drei, vier Stecknadeln geklemmt, damit diese immer griffbereit waren.
Schneiderin war sie und sie fuhr mit ihrem Fahrrad von Haus zu Haus, blieb dort ein paar Tage und nähte die neueste Saisonkollektion für die gesamte Familie. Selbstverständlich wurde der Stoff vorher im Sonderangebot eingekauft und so konnte es sein, dass alle drei Kinder Kleidung aus dem gleichen Stoff bekamen, meine Schwester und ich Trägerröcke, meine Bruder eine Latzhose, oft kariert, immer superchic.
Selbst als einmal der Riemen der Singer-Tretnähmaschine riss, behielt sie die Ruhe. Es wurde kurzerhand ein Riemen bei Tante Strothmann, der Nachbarin ausgeliehen.
Aber das war nicht das Wichtigste, für uns Kinder, dass wir neue Kleidung bekamen, viel bedeutsamer war, dass es nach jedem Mittagessen auch einen Nachtisch gab und das war sonst nur am Sonntag der Fall.
Meine Mutter gab sich natürlich ganz besonders große Mühe beim Kochen, weil sie den Gast ja ordentlich bewirten wollte.
Wenn man Fräulein Hollenhorst eine Frage stellte, antwortete sie meist kurz und bündig, doch ein einfaches Ja gab es bei ihr nicht, sie „sagte“ stattdessen Hö-ö-hö und nickte salbungsvoll mit dem Kopf.
Nach dem Mittagessen las sie in Ruhe die Tageszeitung und trank eine Tasse Kaffee, um nach einer Dreiviertelstunde wieder an ihre Arbeit zu gehen.
Ich habe ihr gern zugesehen und wenn ich nicht damals den Entschluss gefasst gehabt hätte, Lehrerin zu werden, dann wäre ich sicher Damenschneiderin geworden, so sehr habe ich sie bewundert. Auch dachte ich mir, dass ich dann sicher wunderbare Sachen zum Mittagessen vorgesetzt bekommen hätte, ein weiteres Argument für diesen Beruf.
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